EIGENTLICH HABEN WIR IMMER FREI

Von Sigrid Haubenberger-Lamprecht


DIESER GASTBEITRAG IST AUS DEM BUCH >>> LERNEN IST WIE ATMEN, S. 144-151


 

Die verschiedenen Aspekte der Zeit

Heute habe ich „frei“. Nun ja, eigentlich haben wir immer frei. Damit meine ich die Möglichkeit, unsere Zeit nach unseren Interessen oder Berufungen einzuteilen. Heute ist es aber nochmals etwas Besonderes: Richard ist mit Jonas und Elias zu einer befreundeten Familie gefahren. Somit stehen mir ein paar Stunden des Tages zur freien Verfügung, die ich ganz bewusst und ohne Unterbrechungen meinen eigenen Tätigkeiten widmen kann.

Ich sitze im Bus. Während der Fahrt zum Park in der Innenstadt lasse ich meinen Blick über die vorübergleitenden Häuser schweifen. Sehe, wie vielfältig die einzelnen Fassaden gestaltet sind, bemerke die Schattenspiele in den Auslagen. Ich erfreue mich daran, nicht umsonst habe ich Architektur studiert. Der Umgang mit Formen und Raum hat mich schon als Kind interessiert. Nun habe ich Zeit, mich ganz dem Betrachten hinzugeben. Erst durch das gemeinsame Wachsen mit unseren Söhnen ist mir so deutlich bewusst geworden, dass der Weg das Ziel ist.

Unzählige Male haben wir – oft bis zu einer Stunde und natürlich nur, wenn das meine Zeit auch zuließ – am Weg zum Einkaufen angehalten: Um den Kanalarbeiter zu beobachten, wie er durch den Gully in das Abflussrohr hinunterkriecht, um es zu reinigen. Nach schier endloser Zeit gelangt er schließlich wieder an die Oberfläche – verschmutzt aber froh, dass er es geschafft hat, den dort unten befindlichen Schutt in kleinen Eimern nach oben zu befördern. Oder um an einer anderen Baustelle dem Bodenleger beim Verlegen der Pflastersteine zuzusehen. Bis so ein riesiger Pflasterstein waagrecht im Sandbett verlegt ist, dauert es eine ganze Weile. Doch an den Handgriffen der Arbeiter merkt man, dass sie das öfter machen, so selbstverständlich gehen sie ihnen von der Hand. Ein anderes Mal lädt ein Kran die neuen Fenster auf einem umgebauten Dachstuhl ab. Dazu muss der Kranführer die Last mit seiner Fernsteuerung genau führen, damit er sie exakt durch die schmale Öffnung bekommt. Erst nachdem die Fenster gut im Inneren des Hauses gelandet sind, können wir weitergehen.

Viel später wird mir Elias einmal von einer Beobachtung berichten, die er auf einem dieser Wege gemacht hat. Seither weiß ich, dass er dank der Zeit, die wir uns damals genommen haben, genau weiß, wie ein Handhubwagen funktioniert. Welcher Hebel wie gedrückt werden muss, damit der Wagen fährt und die Palette abgestellt werden kann.

Und nun sitze ich im Park und kann meinen Gedanken für dieses Buch freien Lauf lassen. Was bewegt mich gerade? Was möchte ich noch mit den zukünftigen Leserinnen und Lesern teilen?

Gestern habe ich mir im Internet Kurzinterviews zur Frage „Verhätscheln wir unsere Kinder?“ angeschaut. Entsetzt habe ich die meisten Aussagen verfolgt. Die Konklusion: Ein Großteil der Befragten befürwortet nach wie vor „die gesunde Watsch’n“. Die Kinder müssen ja funktionieren, da darf schon mal härter rangegangen werden! Unter dem Motto „Das hat noch nie jemandem geschadet, mir auch nicht“, wird hier gerechtfertigt, dass einem Menschen, nur weil er noch „minderjährig“ ist, körperliche Gewalt angetan wird. Derartige Aussagen machen es mir schwer, hinter dem gewalttätigen Erwachsenen den verletzten Menschen zu sehen. Alice Miller, die bekannte polnisch-schweizerische Psychotherapeutin, beschreibt dieses Verhaltensmuster eingehend in ihren Büchern: Den meisten Menschen, die so argumentieren, ist selbst Ähnliches passiert. Ihre Strategie, mit dem damaligen Schmerz umzugehen – nein, nicht damit umzugehen, sondern ihn zu verdrängen – besteht darin, die alte Wunde bloß nicht anzurühren, es könnte ja wieder wehtun. Und so wird dieser Schmerz unreflektiert an die nächste Generation weitergegeben, wodurch man die Gewaltspirale nicht unterbricht, sondern sich auf ihr weiter nach oben bewegt.

Wenn wir unser Zusammenleben mit Kindern genauer anschauen, werden wir erkennen, wie viele unterschiedliche Arten von Gewalt oft gut versteckt darin immer noch vorhanden sind. Ist es zum Beispiel nicht auch eine Form von Gewalt, dass Kinder ungefragt im Zeitraster der Eltern funktionieren müssen? Als ich über unsere Entdeckungen auf den Wegen durch die Stadt berichtete, habe ich geschrieben: „… natürlich nur, wenn das MEINE Zeit auch zuließ.“ Gestehen wir uns im Zusammenleben mit Kindern ein, dass auch sie ihren ganz eigenen Rhythmus haben? Geben wir ihnen den dafür benötigten Zeit-Raum? Das Leben mit Kindern – und das müssen nicht die eigenen sein – sehe ich also auch als Einladung, uns selbst die Frage zu stellen: Nach welchem Zeitraster funktionieren wir beziehungsweise glauben wir, funktionieren zu müssen?

Nach der Geburt unseres ersten Kindes habe ich bald erkannt, wie einfach das Zusammenleben mit einem Säugling ist, wenn ich mich auf seinen Rhythmus einlasse. Also habe ich mir die notwendigen Erledigungen so eingeteilt, dass sie möglichst wenig in den Rhythmus des Babys eingriffen. Termine zu einem genauen Zeitpunkt habe ich damals als extrem stressig empfunden. Denn ich konnte ja im Voraus nicht wissen, zu welcher Zeit Jonas an diesem Tag aufwacht, hungrig ist, eine nasse Windel hat oder einfach meine Nähe einfordert.

Rückblickend war diese erste Phase meiner Mutterschaft für mich die größte Herausforderung: Von der unabhängigen Frau und Partnerin, die zu jedem Zeitpunkt entscheiden konnte, was sie wann und wie lange macht, zur stillenden Mutter, die auf Abruf als Nahrungs- und Wärmequelle gebraucht wird. Einerseits hat mich das Muttersein natürlich erfüllt, andererseits fühlte ich mich ziemlich gefordert durch die Erkenntnis, dass da plötzlich jemand ist, der ab sofort mein Leben sehr stark mitbestimmen wird.

Ich erinnere mich noch gut an eine Übung, die uns unsere Hebamme während des Geburtsvorbereitungskurses durchführen ließ: Wir sollten aufschreiben, wie wir uns den Tagesablauf mit Baby so vorstellen. Heute muss ich lachen, wenn ich an meine damaligen Aufzeichnungen denke: Aufstehen, Baby stillen, dann schläft es zwei Stunden, in denen ich Zeit für mich habe, zum Lesen, zum Entspannen, für die Hausarbeit… Es kam ganz anders: Jonas brauchte in den ersten Monaten ganz viel Körperkontakt – auch beim Schlafen. Und untertags schlief er oft nur eine halbe Stunde. Mir blieb also nicht viel Zeit, um daneben etwas anderes zu tun – noch dazu, da Jonas es sofort merkte, wenn er plötzlich allein lag.

Außerdem habe ich mich als junge Mutter sehr verunsichert gefühlt durch die unterschiedlichsten Ratschläge, die damals auf mich einprasselten – sei es von Menschen oder aus Büchern. Im Rückblick kann ich nun erkennen, dass ich einfach meine Zeit gebraucht habe, um in der Begleitung unseres Sohnes meinen ganz eigenen Weg zu finden. Eine große Hilfe waren dabei die Eltern-Gesprächsabende im Rahmen der Emmi-Pikler-Spielgruppen. Dort erfuhren wir, wie wichtig es ist, gerade in der ersten Zeit die Bedürfnisse dieser ganz kleinen Wesen sofort zu erfüllen, weil ihr Zeitempfinden ein völlig anderes ist: Wenn sie Hunger haben, will dieser sofort gestillt sein, denn sie wissen noch nicht, dass es ein „später“ gibt. „Lass ihn halt mal schreien“ oder „Warte nur, der wird euch noch auf der Nase herumtanzen!“ haben wir etliche Male zu hören bekommen, wenn wir Jonas’ Bedürfnis nach Nahrung oder Nähe sofort nachgekommen sind. Und was sagt man darauf, wenn man – so wie die anderen auch! – nicht in die Zukunft schauen kann und daher nicht weiß, ob sich ihre Voraussagen nicht vielleicht doch bewahrheiten?

Trotzdem haben wir ganz bewusst begonnen, unser Leben nach unserem Kind auszurichten. Ausschlafen lassen, bis Jonas von allein aufwacht, auch wenn deshalb ein Termin verschoben werden muss. Oder ihn in seiner Tätigkeit, zum Beispiel beim Betrachten eines Gegenstandes, nicht unterbrechen. Im Zuge dessen durften wir erleben, wie entspannt ein Miteinander sein kann, wenn wir Großen uns entscheiden, unsere Bedürfnisse hinter die der Kinder zu stellen. Nicht um sie ganz aufzugeben! Aber da wir im Unterschied zu den kleinen Kindern ja wissen, dass es ein „später“ gibt, können wir die Erfüllung unserer eigenen Bedürfnisse eben auf einen anderen, späteren Zeitpunkt verschieben.

Das war und ist natürlich nicht immer einfach. Bis zur Geburt unseres ersten Kindes haben wir die zweite sonntägliche Tasse Kaffee immer gleich nach dem Frühstück beim Zeitungslesen auf der Couch getrunken. Das machte den Sonntag erst zum Sonntag! Und nun? Häufig kommen wir erst am Nachmittag dazu, uns eine zweite Tasse Kaffee zu gönnen – inzwischen immerhin schon auf der Couch. Denn wir werden ständig gebraucht, zum Beispiel als Handlanger beim Origami-Falten. Zwar schaffen wir es zwischendurch vielleicht, die Wäsche, die schon seit Tagen an der Leine hängt, endlich abzunehmen und zusammenzulegen. Doch dann wird wieder ein Apfel zur Jause verlangt – am liebsten aufgeschnitten, denn so schmeckt er noch viel besser, finden unsere Söhne, weshalb sie jedes Mal ausdrücklich darum bitten. Beim Abstellen der Kaffeetasse fällt mir auf, dass der Couchtisch eine Überholung brauchen würde. Ich beginne also erst einmal damit, die Dinge, die sich auf ihm stapeln, an ihren Platz zurückzustellen. Und so vergeht ein solcher Sonntagmorgen, indem ich den Bedürfnissen meiner Söhne nachkomme und mich dazwischen den Dingen hingebe, die mir gerade ins Auge springen. Wenn ich mich darauf einlasse, ergibt sich alles wie von selbst, und dann finde ich es gar nicht mehr schlimm, wenn sich die zweite Tasse Kaffee auf den Nachmittag verschiebt. „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“ sagt schon ein altes Sprichwort – und es bewahrheitet sich: Am Nachmittag ergibt sich dank des vertieften Spiels unserer Söhne eine Lücke, die es mir ermöglicht, in aller Ruhe meinen Kaffee zu trinken.

Selbstverständlich finden in diesem „fließenden Tun“ auch meine eigenen Begeisterungen Raum. Es hängt jedoch von mir ab, welchen Impulsen ich nachgehe: Denke ich, wenn mein Blick über die verstaubte Stereoanlage gleitet, nur ans Staubwischen, oder wird mir bewusst, dass ich schon lange nicht mehr Musik gehört habe? Ich bin Schöpferin meiner Realität, ich bestimme, welche Tätigkeit mir im jeweiligen Augenblick gerade guttut, und nur ich kann meinen Impulsen nachgeben, sie Wirklichkeit werden lassen. Und mir dabei auch zugestehen, dass mich Staubwischen in den Momenten, wo ich mich bewusst dafür entscheide, durchaus glücklich macht.

In diesem Miteinander-Wachsen habe ich auch gelernt, dass ich damit rechnen muss, mit meinen Tätigkeiten nicht zügig und ohne Unterbrechung voranzukommen, wenn meine Söhne anwesend sind. Denn immer wieder werde ich gebraucht, sei es als Jausenlieferantin, sei es um auftauchende Fragen zu beantworten oder einfach da zu sein, ihren Spielen beizuwohnen und sie spüren zu lassen, dass sie gesehen werden. Und es gelingt mir nicht immer, dabei auch entspannt zu bleiben.

Unsere Söhne sind mittlerweile acht und elf Jahre alt, und wir achten weiterhin darauf, dass sie ausreichend Zeit für ihre Bedürfnisse und selbst gewählten Tätigkeiten haben. Natürlich gibt es auch in unserem Alltagsleben genug Termine, die eingehalten werden müssen, sei es die Abfahrt des Zuges, wenn wir die Großeltern besuchen, oder der Akrobatikkurs, der zu einer bestimmten Uhrzeit beginnt. Aber diese Termine halten wir bewusst in Grenzen, denn es ist uns wichtig, dass Jonas und Elias genügend Zeit bleibt für ihr freies Spielen. So können sie nach Herzenslust ihren Begeisterungen nachgehen, aus denen sich mittlerweile sogar die eine oder andere Kompetenz entwickelt. Jonas zum Beispiel hat bereits im Alter von fünf Jahren sehr gerne fotografiert. Immer wieder integrierte er diese Leidenschaft auch in seine Spiele und eines Tages entstanden dabei Stop-Motion-Aufnahmen. Das Zusammensetzen der einzelnen Bilder zu einem Film weckte nun sein Interesse für dieses Medium. Eine Videokamera im Freundeskreis war schnell gefunden, sodass er seiner Begeisterung weiter folgen konnte und als ein großes Fest anstand, entschied er sich, dieses filmisch festzuhalten. Die dort getätigten Aufnahmen wurden anschließend von ihm fachmännisch mit dem dazugehörigen Computerprogramm geschnitten und es entstand eine wundervolle Zusammenfassung dieses besonderen Abends. Mittlerweile steht die nächste Veranstaltung an und wir wissen, wen wir für die filmischen Belange einsetzen können.

So wie wir von Anfang an auf ihre Bedürfnisse eingegangen sind, respektieren sie nun auch schon unsere Bedürfnisse. Zum Beispiel wenn sie uns in Ruhe besagten Sonntagskaffee trinken lassen – und zwar wirklich gleich nach dem Frühstück. Oder sie uns zu einem Vortrag begleiten und dabei ebenso interessiert zuhören wie wir. Oft bekommen wir dann die Rückmeldung, welch lange Aufmerksamkeitsspanne die beiden haben. Ich jedoch glaube, dass einfach eine Wechselwirkung eingetreten ist. Ich bin überzeugt davon, dass unser respektvoller Umgang mit ihnen und ihren Bedürfnissen die Grundlage dafür ist, dass sie das Gleiche nun auch für uns und andere Menschen tun.

Die geschilderten Alltagsszenen machen deutlich, dass wir in unserem eigenen Zeitraster leben. Das meinte ich, als ich schrieb: „Eigentlich haben wir immer frei.“ Wir geben sozusagen den Takt vor. Die verschiedenen Melodien, die zwischen den Taktstrichen entstehen, sind ein Zusammenspiel aus dem Befolgen unserer eigenen inneren Impulse und den wechselnden äußeren Gegebenheiten.

Dass Pausen dabei einen ganz besonderen Stellenwert haben, ist klar. Eine Auszeit ist immer wieder notwendig, um ganz bei uns ankommen zu können. Unsere Söhne verlangen bewusst danach: So haben sie nach intensiven, erfüllten Tagen, an denen sie Freunde treffen oder Ausflüge machen, ein besonders großes Bedürfnis nach Ruhe: Einfach zu Hause bleiben und an den eigenen Projekten weiterarbeiten. Zeit haben, um die vielen Eindrücke der vergangenen Tage zu verarbeiten. Von den Kindern habe auch ich gelernt, immer wieder gut auf mich zu schauen: Fühlt sich der Alltag mit seinen zahlreichen Terminen noch stimmig an, oder brauchen wir wieder einmal einen Tag nur für uns, zum Durchatmen und Ankommen?

Früher habe ich Listen geschrieben, auf denen alle Arbeiten standen, die noch zu erledigen waren. Hausarbeit, Einkäufe, Projekte, Treffen mit Freunden etc. – sorgfältig gereiht, um möglichst bald abgehakt werden zu können. Diese Listen haben mich immer gestresst. Sobald mein Blick darauf fiel, wurde mir bewusst, wie viel noch zu tun war. Anfangs war ich ja noch hoffnungsfroh, bis zu dem festgesetzten Zeitpunkt alle aufgelisteten Termine schaffen zu können, doch je näher der Termin kam, umso mehr erkannte ich, dass es sich auch diesmal wieder nicht ausgehen würde. Also erneut verschieben! Zurück blieb ein Gefühl des Versagens.

Das ist heute zum Glück ganz anders: Ich schreibe zwar nach wie vor Listen, doch sie erfüllen nun einen anderen Zweck: Sie dienen ganz einfach als Gedächtnisstütze. Ob und wann die einzelnen Punkte erledigt werden, ist nicht mehr relevant. Es geht nur darum, dass sie nicht vergessen werden. Ich vertraue darauf, dass die Dinge zur rechten Zeit erledigt werden oder sich von allein erledigen. Und ich erfreue mich daran, wie leicht es auf einmal ist, diese Listen „abzuarbeiten“. Ich denke dabei an jenen Sonntag, als „Den Couchtisch Aufräumen“ und „Staubwischen“ so ganz nebenbei von meiner Liste verschwanden.

Dieses entspannte Vertrauen braucht es auch, wenn es um das für unsere Augen unsichtbare Reifen einer Fertigkeit geht, das unmerklich in seiner Zeit stattfindet. In den meisten Fällen braucht es dazu nämlich gar kein Üben! Jonas hat diesen Prozess in folgende Worte gefasst: „Am besten lernt man in der Pause.“ Denn irgendwann, ohne äußeres Zutun, ohne regelmäßiges Üben entwickelt sich eine Fertigkeit, wächst in den Körperzellen heran und kommt oft erst Monate später ans Tageslicht, dann nämlich, wenn der sprichwörtliche Knopf aufgegangen ist. Ein Beispiel:

Seit zwei Jahren kann Jonas bereits schwimmen. Allerdings liegt er noch zu steil im Wasser, seine Bewegungen sind viel zu schnell und verkrampft. Es kostet mich Mühe, ihm nicht ungefragt Verbesserungsvorschläge zu machen. Ich selbst liebe das Brustschwimmen, weiß, wie gut es sich anfühlt, vom Wasser getragen zu werden und gleichzeitig durch exakt ausgeführte Bewegungen schnell und zügig vorwärts zu kommen. Nach der langen Winterpause – ohne zwischenzeitliche Hallenbadbesuche – steht nun der erste Ausflug ins Freibad an: Dort steigt Jonas ins Becken und schwimmt sofort „richtig“. Wir erkennen eine Sicherheit und Präzision in seinen Bewegungen, die uns staunen lässt. Unsichtbar ist in ihm etwas gereift, das nun an die Oberfläche gelangt, so dass auch wir daran Anteil haben können.

Solche Erlebnisse bestärken uns in unserer Haltung, dass es uns nicht zusteht, die Entfaltung unserer Kinder beschleunigen zu wollen, auch wenn wir das vermeintlich Beste für sie wollen. In Wahrheit braucht es nicht mehr als Vertrauen in die Lebensprozesse. Einige Bücher zu diesem Thema (Rebeca Wild, Olivier Keller, André Stern sowie Bertrand Stern), vor allem aber die praktischen Erfahrungen mit unseren eigenen Söhnen haben mir geholfen, dieses Vertrauen tatsächlich aufzubringen.

In Bezug auf mich selber kann ich von ihnen noch einiges lernen: Bei der Aneignung einer neuen Fertigkeit bin ich sehr ungeduldig. Einfach spielerisch an die Sache heranzugehen, so dass auch das Scheitern seinen Platz hat, fällt mir schwer. Zu sehr stecke ich hier noch in meiner eigenen Bewertung fest. Denn ich möchte die neue Fertigkeit am liebsten sofort perfekt beherrschen. Doch durch den Druck, den ich mir selbst auferlege, verliere ich dann oft die Lust, dranzubleiben und gebe zerknirscht auf. Immerhin fällt es mir schon viel leichter als früher, die Kostbarkeit des Augenblicks zu sehen – nichts anderes mehr wahrzunehmen als den Moment, der gerade ist. Und dabei, wie während der vorhin geschilderten Busfahrt, ganz bei mir zu sein.

Das Dienen in meinem Malort war und ist mir in dieser Hinsicht eine große Unterstützung. Vor mittlerweile sechs Jahren absolvierte ich bei Arno Stern die Ausbildung zur im Malort dienenden Person. Wie durch ein Wunder ist mir kurz danach ein Raum „zugefallen“, so dass ich seit damals Menschen jeden Alters bei ihrem Malspiel bedienen darf. Der Raum fasst bis zu zwölf Personen, die sich entschieden haben, mindestens ein Jahr lang einmal pro Woche für neunzig Minuten an diesen besonderen Ort zu kommen, um ihre ureigene Spur zu ziehen. Absichtslos, ohne das Bedürfnis, ein Werk zu erschaffen, malen sie Bilder, die keiner Bewertung unterzogen werden.

Meine dienende Haltung ermöglicht es den Malenden, sich ganz ihrem Spiel hinzugeben. Für diese eineinhalb Stunden gibt es für jeden der Anwesenden nur noch die Pendelbewegung zwischen dem Palettentisch mit den schon angerührten Farben, der in der Mitte des Raumes steht, und der Wand, an der sein Blatt mit Reißnägeln befestigt ist. Einen Pinsel in die Hand nehmen, die Spitze erst ins Wasser und danach in die Farbe tauchen, damit zum Blatt gehen und seine Spur ziehen. Sobald zu wenig Farbe im Pinsel ist, wieder zurückgehen zum Palettentisch und den Pinsel erneut eintauchen, oder einen neuen Pinsel und eine neue Farbe auswählen. So füllt sich das Blatt nach und nach mit dem, was genau in diesem Augenblick von innen nach außen getragen werden will. Und noch etwas habe ich im Malort gelernt: Welch großen Wert die Beständigkeit im Leben hat. Was es bedeutet, ganz sicher sein zu können, dass mir genau in einer Woche derselbe wertfreie Raum wieder offenstehen wird, damit ich mein Spiel von letzter Woche fortsetzen kann.

„Alles hat seine Zeit.“ Dank meiner Söhne hat dieser Satz für mein Leben eine völlig neue Bedeutung bekommen. In meiner Kindheit bedeutete er: „Jetzt ist es aber genug, ihr solltet euch endlich wieder den ernsten Themen des Lebens zuwenden!“ Dazu passte auch gut der Spruch: „Erst die Arbeit, dann das Spiel.“ Zuerst mussten die Hausaufgaben erledigt werden, erst dann ging es runter in den Hof zum Spielen. Andere bestimmten darüber, wie lange ich mich welchen Tätigkeiten widmen durfte. So hatten wir es alle in der Schule gelernt, und niemand hinterfragte diese Dinge damals, das war einfach so und aus. Kritische Fragen wie „Warum sollen alle Sechsjährigen zur gleichen Zeit Lesen und Schreiben lernen?“ wären keinem eingefallen, auch mir nicht.

Erst heute und dank meiner hier geschilderten Erfahrungen kann ich dem Satz „Alles hat seine Zeit“ freudig zustimmen. Sich Zeit nehmen für etwas, sich diese Zeit zugestehen (auch oder gerade für etwas angeblich Unwichtiges), darauf vertrauen, dass es für alles die „rechte Zeit“ gibt, wieder lernen, in seiner eigenen Zeit, im eigenen Rhythmus zu leben – mögen diese Zeilen eine Einladung dazu sein.

Ernst Ferstl, österreichischer Lehrer und Schriftsteller:

Zeit, die wir uns nehmen,
ist Zeit, die uns etwas gibt.


Sigrid Haubenberger-Lamprecht: „Was brauche ich zum Glücklich-Sein?“ Die Suche nach Antworten auf diese Frage führt mich immer zu meinen Begeisterungen und damit zu mir selbst. Durch meine beiden Söhne und meinen Mann habe ich außerdem gelernt, wie wichtig mir eine entspannte und wertfreie Umgebung ist. Dies versuche ich im Zusammenleben mit meiner Familie und darüber hinaus u.a. in meinem Malort zu leben. So bin ich dankbar für das, was ist, und neugierig auf alles, was noch gelebt werden will. www.malort-wien.at


DocMovefilm: Diese Aufnahmen entstanden Anfangs 2011 bei einer ersten Begegnung mit Arno Stern und aller ersten Filmstudien für einen Dokumentarfilm über Arno Stern. Aus den Rechercheaufnahmen ist ein kurzer Einblick entstanden: ins Malspiel, den Malraum, als „Closlieu“ weltweit bekannt, so wie Arno Stern es persönlich erklärt und seit über 60 Jahren weitervermittelt. Mit Freude malend, der Spur welche auf dem weissen Blatt entsteht folgend, eintauchend in die Farben, das Malspiel erlebend. Frei von jeglichem Einfluss der Interpretation, dass das Bild andern Personen gefallen soll oder dokumentiert sein wird, absolut von einer künstlerischen Tätigkeit unterscheidend. Ein Aspekt, aber gleichzeitig auch die Basis Arno Sterns Lebenswerk, ein Plädoyer für die Förderung des natürlichen, kreativen Ausdruckes des Kindes…


nanomaniac100: Früh übt sich wenig Lernprogramme fallen bei Forschern durch „Ich habe ein bisschen Angst, dass man mit Lernprogrammen passive Konsumenten erzieht“, meint Neurobiologe Prof. Gerald Hüther zur Frühförderung von Kindern.


 

Bisherige Veröffentlichungen zu diesem Thema:

SPASS ODER FREUDE?

WIE DÜRFEN KINDER LERNEN?

MUßE, NICHT ARBEIT, IST DAS ZIEL DES MENSCHEN

VOM PRÜFEN UND BEWERTEN

PAPA, WIR WOLLEN DIE FBI-SEITE LESEN KÖNNEN!

EIN INTERVIEW ÜBER DAS FREILERNEN

BEVOR DER ERNST DES LEBEN BEGANN

SCHOLÉ HAUPTANLIEGEN FÜR 2018: LEGALISIERUNG DES FREILERNENS

SCHOLÉ: INITIATIVE FÜR BILDUNGSFREIHEIT

SCHOLÉ: MUSSE FÜR HERZ UND GEIST

 

Die Gastbeiträge sollen eine bestimmte Bandbreite von Ansichten abbilden.
Dabei müssen die Inhalte nicht automatisch die Sichtweise des Verlags oder das Meinungsspektrum von Verlagsmitarbeitern wiederspiegeln.


 

EINLADUNG ZUR 100. LICHTLESUNG & BUCHPRÄSENTATION „WANDEL DER HERZEN“

ACHTUNG: KEINE LIVE-ÜBERTRAGUNG DER 96. LICHTLESUNG

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