Von Alexandra Terzic-Auer
DIESER GASTBEITRAG IST AUS DEM BUCH >>> LERNEN IST WIE ATMEN, S. 57-62.
Aus meinen Kindertagebüchern der 1990er-Jahre
In den letzten Tagen habe ich mir die Kindertagebücher hervorgeholt, die mit Anatols Geburt beginnen und – das war mir bisher gar nicht bewusst gewesen – mit Severins Schuleintritt enden. Ab diesem Zeitpunkt habe ich nur noch ab und zu etwas notiert, denn der natürliche Fluss der Ereignisse, der jeden Tag neue Überraschungen für uns bereithielt, war auf einmal abgerissen: Jetzt mussten wir uns alle an äußere Vorgaben, an Stundenpläne, Lehrpläne, Sprechtage, Hausübungen, Prüfungen oder fixe Ferienzeiten halten, und der damit verbundene Stress hat auch meine Schreiblust zum Versiegen gebracht… Damals hatte ich ja keine Ahnung, dass es uns nach dem österreichischen Gesetz vielleicht möglich gewesen wäre, unser freies gemeinsames Wachstum auf allen Ebenen einfach fortzusetzen – allein daran zu denken, tut immer noch weh!
Trotzdem kann ich im Rückblick erkennen, dass der mühselige Gang durch die Institutionen offenbar notwendig war, um meine damals noch schwankende Überzeugung zu stärken: Heute kann nichts und niemand mehr meine Gewissheit erschüttern, dass Kinder mit allem, was sie ausmacht, zur Welt kommen. Und so wie ein Samenkorn nur Licht und Wasser braucht, um zu keimen und zu wachsen, so brauchen sie nur Liebe und Aufmerksamkeit, um ihre mitgebrachten Gaben eine nach der anderen zu entfalten. In einer Atmosphäre des Respekts und der emotionalen Geborgenheit aufwachsend, lernen sie alles, was sie brauchen, mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit – ohne Stress, ohne Druck von außen, ohne amtliche Prüfungen (keine Sorge, auch für die nötigen Prüfungen sorgt das Leben selbst…)!
Wenn ich die Kindertagebücher zur Hand nehme, erkenne ich schmunzelnd, wie deutlich die Lebenswege unserer zwei Söhne von Anfang an vorgezeichnet waren: Anatol hat sich spätestens ab dem zweiten Lebensjahr mit größter Konzentration und Gewissenhaftigkeit auf seinen künftigen Beruf als Raum- und Verkehrsplaner vorbereitet. Während Severin von Anfang an eine vielseitige Künstlernatur, ein Meister des Bauens und der beweglichen Bilder war.
Schon wenige Minuten nach seiner Geburt, als Anatol mich erst nur mit einem, dann mit beiden Augen prüfend anschaute, dämmerte mir die Erkenntnis, dass dieses scheinbar hilflose kleine Wesen mich vieles lehren würde. „Ein Denker, ein Schürfer“, meinte der Astrologe, den Anatols Patin konsultiert hatte – eine Diagnose, die sich bald vielfach bestätigen sollte. Hier eines der lustigsten Beispiele dafür: Bei einem seiner ersten Versuche, auf dem Boden zu robben (krabbeln kann er noch nicht), stößt Anatol mit dem Kopf an einen Bettfuß. Doch statt in Wehgeschrei auszubrechen, schaltet der sieben Monate alte Knirps den Rückwärtsgang ein, robbt ein Stückchen zurück und dann wieder ein Stückchen vor, um diesmal mit Absicht seinen Kopf gegen den Bettfuß zu schlagen – erst ganz vorsichtig, dann etwas fester, dann so fest wie beim ersten Mal. Tief befriedigt über das Ergebnis seines Materialtests robbt er danach weiter, die kleine Beule nimmt er ohne zu jammern in Kauf…
Aufgrund solcher und ähnlicher Erfahrungen sind wir gar nicht mehr besonders erstaunt, als Anatol sich mit neunzehn Monaten bereits für Buchstaben interessiert. Erst das O, dann das N, dann das Y – er entdeckt sie überall, in Büchern, auf Plakaten, Autonummern oder Aufschriften aller Art, und heißt sie freudig und lautstark willkommen. Mit knapp drei Jahren kennt er auch alle Ziffern, kann jede Schrift lesen und schreibt auf den Kühlschrank die schönsten, nämlich möglichst lange und komplizierte Wörter mit Magnetbuchstaben.
Die ganz große Liebe des kleinen Bübchens sind allerdings Fahrzeuge – vor allem Schienenfahrzeuge. Mit allen Sinnen nimmt er ihre Geräusche und Gerüche, ihre Farben und Formen wahr, befühlt das Material der Sitze, registriert Aufschriften und Warnschilder, will wissen, wie oft und wohin sie fahren, was sie transportieren, wie Lokführer und Schaffner, seine großen Helden, leben. Zum Glück hat er einen Vater, der seine Leidenschaft versteht und mindestens einmal pro Woche längere Fahrten mit ihm unternimmt. Glückstrahlend kommt er etwa von einem Ausflug nach Hütteldorf zurück, rattert die Namen der U-Bahnstationen herunter und erzählt atemlos, welche Loks er auf welchem Bahnsteig dort gesehen hat.
Am Abend vor dem Schlafengehen will Anatol keine Märchen hören, sondern Eisenbahngeschichten. Die ersten handeln davon, wie Dieter, der einzige Lokführer, den wir persönlich kennen, abends seine Lok in den Schuppen bringt und dann selbst zu Bett geht. Es folgen Nacherzählungen der schönsten und aufregendsten gemeinsamen Bahnfahrten, und danach bestellt Anatol – jahrelang, wenn meine Erinnerung mich nicht trügt – allabendlich: „Einen Eisenbahnunfall!“ Er darf mitbestimmen, auf welcher Strecke das Unglück passiert, und muss dann zwischen zwei Unfallursachen wählen: „Technisches Gebrechen oder menschliches Versagen?“ Eine schwere Entscheidung! Ist sie endlich getroffen, lässt Papi sich einen neuen Unfall einfallen, bei dem natürlich niemand ernstlich zu Schaden kommen darf! Ich bin als Erzählerin nicht so beliebt, weil man sich bei den enorm wichtigen technischen und geografischen Details leider nicht auf mich verlassen kann…
Als Anatol dreieinhalb ist, kauft ihm Papi „Austrian Railways“, ein Fachbuch für englische Eisenbahnliebhaber, in dem sämtliche österreichischen Lokomotiven systematisch, nach Bauart und Reihennummern geordnet, aufgelistet sind. Dieses Buch, ein broschiertes Exemplar mit wenigen Fotos, ist sein Heiligtum. Er nimmt es mit ins Bett, um morgens gleich nach dem Aufwachen, genüsslich Daumen lutschend, darin zu blättern. Mit rotem Filzstift hat er in den langen Listen die Nummer jeder Lok angestrichen, die er schon einmal irgendwo gesehen hat: Was ich für trostlose Reihen achtstelliger Ziffern halten würde, ist für ihn eine Schatzkiste wundervoller Erinnerungen und mindestens ebenso wundervoller Verheißungen, denn irgendwann werden wir mit ihm zu den entlegensten Destinationen fahren, um dort die noch fehlenden Exemplare zu sichten, die er dann mit rotem Filzstift in seinem Eisenbahnbuch anzeichnen wird…
Straßenbahnen und Züge waren seit jeher der rote Faden, an dem entlang Anatol die Labyrinthe des Lebens erforschte. Daneben gab es schon auch noch andere Dinge – Fahnen zum Beispiel, Apfel- und Birnensorten oder Pilze, mit denen er sich zwischen seinem zweiten und sechsten Lebensjahr ebenso systematisch beschäftigte. Aber das waren nur Nebengeleise, deren Faszination nach einiger Zeit wieder verblasste. Die Schienenfahrzeuge dagegen haben bis heute Saison, sie sind das Zentrum, um das sich sein Wissen, ähnlich den Jahresringen eines Baumes, ansammelt: Noch unsicher auf den Beinen stehend, hat er die nächste Umgebung unserer Wohnung erforscht, dann teils zu Fuß und teils im Kinderwagen den Bezirk, dann mit Straßenbahn, U-Bahn und Bussen ganz Wien mit seinen vielen Linien, die er nach Netzplan von einer Endstation zur anderen im wahrsten Sinn des Wortes er-fahren wollte. Etwas später mit dem Zug die Bundesländer und noch später, als Schüler und Student, Österreichs Nachbarländer, ganz Europa…
Beim Eisenbahnfahren und beim Warten auf Bahnhöfen und an Haltestellen hat er Lesen und Rechnen gelernt, Geografie und Geschichte, Menschenkenntnis, Materialkunde und vieles mehr. Er hat dazu keine ausgebildeten Lehrer gebraucht und musste nicht mühsam „motiviert“ werden: Den Lehrplan hat seine Begeisterung vorgegeben, und wir Erwachsenen hatten nicht mehr zu tun, als uns von dieser Begeisterung anstecken zu lassen und seine Fragen zu beantworten, so gut wir konnten. Was wir nicht wussten, mussten wir eben selber erfragen… und so habe ich dank diesem Kind tatsächlich neue Welten entdeckt und täglich etwas dazugelernt!
Das Gleiche gilt natürlich für meinen jüngeren Sohn Severin, nur dass ich, zu meiner nicht geringen Überraschung, nochmals ganz von vorne anfangen musste mit dem Lernen: Dieses Kind war vom ersten Tag an völlig anders als sein zwei Jahre älterer Bruder, von dem es mit stürmischer Liebe begrüßt wurde. Kein Denker, sondern ein Gefühlsmensch, der uns alle beglückte mit seiner impulsiven Zärtlichkeit, seinem Temperament und seinem Humor, manchmal aber auch tief beunruhigen konnte mit unerklärlichen Zorn- oder Verzweiflungsausbrüchen.
Severin hat einen anderen Schlafrhythmus, andere Vorlieben beim Essen, liebt Bälle, Murmeln und bunte Bilder. Er reagiert wie ein Seismograf auf Tonfall und Gesten, hält aber im Gegensatz zu Anatol nichts von verbalen Erklärungen – er möchte völlig ungestört alles „sebal“ ausprobieren! Natürlich zeigt er als Kleinkind auch keinerlei Interesse an Buchstaben und anderen Zeichensystemen, er zeichnet lieber selber, ausdauernd und hingebungsvoll.
Wie sein Künstlervater ist Severin ein sinnlicher Genießer, er braucht Sinneseindrücke und körperliche Bewegung genauso dringend zum Leben wie Anatol geistige Anregung und Denksport. Im Winter sehe ich den Zweieinhalbjährigen einmal seinen Schmusepolster vor das geöffnete Fenster legen: „Damit er ein bissi kalt wird! Mit kalten Knöpfen!“ Sein Himbeersaft muss eine ganz bestimmte Farbe haben und darf ja nicht zu süß sein, der Teller muss farblich zum Essen passen, und aufmerksam nimmt er die Konsistenz jeder Speise wahr: Breiförmiges macht ihn misstrauisch, er will es nicht einmal kosten, egal ob Marmelade oder Kartoffelpüree. Während sein großer Bruder kaum registriert, was ich ihm anziehe, will Severin seine Kleider unbedingt selbst aussuchen. Sein ausgeprägter Schönheitssinn macht ihn auch schon sehr früh empfänglich für kostbare Dinge, edle Stoffe, elegante Wohnungen, die Wunder der Natur.
Begeistert experimentiert der Kleine mit den Elementen, allerdings nicht als Naturforscher wie sein großer Bruder, der mit drei Jahren lakonisch feststellte: „Wenn das Glas nass ist, ist es ein Magnet“, sondern mit einem Enthusiasmus völlig anderer Art: Der kleine Severin tropft Wasser auf ein hellblaues Tuch und beobachtet in einer Stimmung zwischen Rausch und Meditation, wie sich der Wassertropfen ausbreitet: „Ich hab‘ den Fleck auf die Welt gemacht!“ sagt er ergriffen, verspritzt einen zweiten Tropfen und setzt beseligt hinzu: „Noch einen zweiten Tropfen hab‘ ich auf die Welt gemacht!“
Seine Kreativität lebt Severin natürlich auch mit Wonne beim Bauen aus – Sand, Steine, Zweige, Holzklötze, Zuckerwürfel, Bierdeckel, Bücher, alles mögliche dient ihm als Baumaterial und wird mit größter Geschicklichkeit zu komplexen, phantasievollen Gebilden aufgetürmt. Seine Körperbeherrschung ist erstaunlich: Er sitzt auf einem Kinderauto mit Lenkrad, kann noch nicht gehen, aber bereits perfekt rückwärts einparken. Später ist ihm kein Abhang zu steil, kein Sprungbrett zu hoch. Auf jedem Balken wird geschaukelt oder balanciert, jeder Ball ist eine unerschöpfliche Quelle des Vergnügens.
Noch mehr bewundere ich seine Beobachtungsgabe. Als Zweijähriger sieht er bei einer Sportübertragung im Fernsehen einen so genannten Fallrückzieher, den er auf dem Bett voller Begeisterung nachzuahmen versucht: Bis hin zur Stellung der Finger hat er den Bewegungsablauf ganz genau gespeichert! Auch Trickfilme oder filmische Experimente, deren Sinn mir entgeht, weil ich nicht so schnell schauen kann, nehmen Severins Augen offensichtlich im Zeitlupentempo wahr: Er kann sie mir genau erklären und wundert sich über seine blinde Mami. Werbesprüche, Gedichtzeilen oder Melodien, die ihm gefallen, merkt er sich auf Anhieb und gibt sie mit umwerfendem Charme wieder.
Von klein auf ist er gewohnt, auf die samstäglichen Eisenbahnfahrten immer mitgenommen zu werden, von denen er auf seine Weise profitiert. Ich amüsiere mich königlich über die völlig anderen Berichte, die ich nun von Severin zu hören bekomme: Was sie gegessen haben, wer noch aller im Abteil saß, welche Tiere unterwegs zu sehen waren oder auch Wunderbares: „Stell dir vor, Mami, der Berg ist mitgefahren!“
Mit meinem Jüngsten kehre ich zurück in den Zaubergarten der Kindheit, wo die Grenzen zwischen Realität und Phantasie verschwimmen. Severin ist Träumer und Realist zugleich und lernt durch genaue Beobachtung äußerer wie innerer Vorgänge. Er nimmt die Welt mit allen Sinnen auf und hat mich WAHRNEHMEN gelehrt – Farben, Formen, Bewegungen, Stimmungen, die unsichtbaren Energieströme zwischen den Menschen. Das ist die Sprache der Seele, und der vierjährige Anatol hat es in Worte gefasst:
„Mami, ist das toll, dass gerade du den Severin gekriegt hast und nicht irgendeine andere Mami! Der so besonders ist und so gut riecht… Dass von den Tausenden Mamis, die es gibt, gerade du diesen Severin bekommen hast! Hast du dich gefreut?“ – „Ja, sehr!“ – „Hättest du dich über ein anderes Baby mehr gefreut?“ – „Nein!!“ – „Ich auch nicht! Wahrscheinlich hat der liebe Gott dieses Baby für dich ausgesucht, weil er gewusst hat, dass es am besten zu dir passt, dass du dieses am liebsten haben wirst!“
Postskriptum: Beide Söhne haben Volksschule und Gymnasium überstanden und sind inzwischen Studenten. Die langen und oft als tödlich langweilig empfundenen Jahre der Schulzeit haben uns alle, Kinder wie Eltern, aber so sehr gestresst, dass sich Zwang, Ehrgeiz, Anstrengung und Kampf immer selbstverständlicher in unser Familienleben eingeschlichen haben. Deshalb setze ich mich dafür ein, dass es für die nächsten Generationen eine Alternative zu diesem frühen Training in Konkurrenzdenken gibt, das unser Leben zum Überlebenskampf macht: Darin sehe ich die vornehmste und wichtigste Aufgabe der Freilernerbewegung!
„Die Kinder sind der Fortschritt selbst – vertraut dem Kinde.“
Rainer Maria Rilke (1875-1926), Dichter
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